Von der Zeit, die bleibt. Biblisches zur Gewalt und zum Lebensstil des Friedens

Ein kirchlicher Mitarbeiter und Theologe, der mit dem Thema der Gewaltfreiheit durch viele Gemeindehäuser und Synodenversammlungen zieht, bemerkte kürzlich etwas ernüchtert: „Bei meinen Vorträgen reagieren die Menschen am wenigsten auf die Passagen, in denen ich von der Bibel aus rede!“ Woran liegt das? Sind uns Christenmenschen die „Friedenstexte“ der Bibel zu abstrakt, zu moralisch, zu utopisch, zu perfektionistisch, als dass wir uns davon im Sinne eines anderen persönlichen oder politischen Lebensstiles anstecken ließen? Und schrecken uns gleichermaßen das Ausmaß, die Dunkelheiten und Abgründe der Gewalt ab, die die Bibel von vorne bis hinten durchzieht?

Beim Blick auf biblische Texte, die Frieden und Gewaltverzicht thematisieren, möchte ich daher versuchen, stärker die Wandlungen, Brüche und Neuaufbrüche in den Blick zu nehmen, die Gottes- und Menschenbilder in der Bibel durchziehen – in der Hoffnung, damit dem biblischen Realismus und ihrer „Strategie“, Gewalt einzudämmen, einen Dienst zu erweisen.

Dass Gewalt in biblischen Texten eine große Rolle spielt, ist unbestreitbar. Schon die Paradieserzählung (Gen 2-4) verschweigt das Hineinbrechen von Gewalt zwischen Mensch und Natur, zwischen Mann und Frau nicht, erzählt es im Gegenteil geradezu psychologisch-verwinkelt, lustvoll, schmerzvoll, nachvollziehbar. Die Gewalt wird bis in ihre patriarchalen Strukturen der Unterordnung realistisch ‚heruntergebrochen‘ – aber sie entspricht damit gerade nicht dem Willen des Schöpfers, sondern nimmt eine gebrochene Perspektive ein. Wer die ersten 4 Kapitel der Genesis liest, spürt eigentlich rasch: Schöpfung war anders gedacht! Aber nun müssen Menschen umlernen, müssen mit ihren Trieben, ihrem Hang zum Bösen, ihrer Lust und Eifersucht umgehen – und der Schöpfer muss es auch. Wer die Leseperspektive aber – wie lange in der kirchlichen Tradition geschehen – verschiebt und dieses Lernen in der Wahrnehmung und im Umgang mit Gewalt zur Propagierung und Legitimierung von Gewalt erklärt, geht an der biblischen Wirklichkeit vorbei! Weder die Schöpfungserzählung noch die prophetischen Bilder vom Tierfrieden zwischen Wolf und Lamm (zum Beispiel Jesaja 11, 6-9) erzählen „hübsche Märchen oder … Berichte über ein Ende der Welt, über eine fernste Zukunft“1 oder von einer verlorenen Vergangenheit. Sie richten eine doppelte Herausforderung an ihre Leser: Sie stellen uns schmerzlich vor Augen, wie anders unsere Welt in allen ihren Beziehungen ‚geworden‘ ist und in unseren täglichen Entscheidungen im Umgang mit Kindern, zwischen den Geschlechtern, zu Tieren und Pflanzen immer wieder wird. „Frieden“ kann in diese Welt nur dann einziehen, wenn wir diese Erinnerung an das ‚Anders-Sein‘ nicht verdrängen. Erst dann können sich – und das ist durchaus ein rationaler Prozess und Diskurs im Persönlichen wie im Politischen – andere Entscheidungen aufdrängen: Das prophetische Bild vom Wolf, der zu Gast beim Lamm ist (Jes 11,6), setzt voraus, dass der Wolf ein Wolf bleibt und kein Lamm wird. Aber „sein Verhalten ändert sich, weil er seine ‚natürliche Feindschaft‘ überwindet. Dass diese Konversion die Form der aktiven Entscheidung hat, bei der der Stärkere den ersten Schritt machen muss … – das ist die gute Botschaft, aber auch das Geheimnis“2 des Lebensstils, zu dem biblische Texte nicht nur, aber auch alle Präsidenten dieser Welt hinreißen möchten!

Diese aktive Entscheidung zu einer ‚anderen Welt‘ wird in der Bibel auf einer radikalen theologischen Grundlage getroffen, von der das erste Mal nur wenige Kapitel nach der Schöpfungserzählung in der sogenannten Sintflutgeschichte (Gen 9-11) erzählt wird. Die Sintflut – die das antike religionsübergreifende Trauma der ‚Überflutung‘ der Welt durch die Kräfte der Schöpfung thematisiert – wird in der Bibel zunächst so erzählt, dass sie eine ökologisch-theologische Doppelbotschaft vermittelt: Eine solche Zerstörung ist möglich, aber sie ist in Zukunft nicht mehr religiös begründbar! Die Begründung für dieses fundamentale Statement  liegt aber im Verhältnis Gottes zur Welt: Gott als Schöpfer ist gewissermaßen mit seiner Schöpfung traumatisiert und muss sich nun bewegen, denn auch ihm wird klar: Die beste aller Welten kann und wird nicht perfekt sein. Gottes Ent-Täuschung über die ideale Schöpfung mündete in apokalyptischer Gewalt, in der Überflutung alles Lebens. Nun aber ändert „Gott sich in einem entscheidenden Punkt“ und verwandelt sich „vom enttäuschten Idealisten mit dem Projekt der absoluten Utopie … in einen utopischen Realisten“.3

Ausgehend von dieser Erzählung vom beweglichen Gott, der seine  gewalttätige Reue gewaltig bereut und sich aktiv gegen sie entscheidet, verliert die Bibel diese Spur nicht mehr. Provozierend anthropomorph und parteilich erzählt sie bis hinein in die neutestamentlichen Ostergeschichten von Gottes und der Menschen Leidenschaften, von ihrem Zorn, ihrer Eifersucht und Rache, von unglücklichen Berufungen (von König Saul bis Judas Iskarioth), abgründigen Versuchungen (von Abraham bis Petrus), von tyrannischer Macht (von Hiob bis Paulus) und von nicht zu entschlüsselndem Sinn (vom Prediger Kohelet bis zum Garten Gethsemane). Sie tut dies allein aus einem einzigem Erfahrungsgrund, der immer wieder zurückführt zum Trauma der Sintflut – und darüber hinaus: Gott mutet der Welt nichts zu, was er nicht sich selbst zumutet! Nachdenklich formuliert der Bochumer Theologe Christian Link: „Vielleicht ist nur ein Gott, der sich selbst das Äußerste an Entfremdung, Schmerz und Betroffenheit zumutet, imstande, einer Welt Hoffnung zu geben, die an solchen (gewalttätigen M.B.) Zumutungen leidet“?4 Ist es dieses „Gottesbild“, das Menschen dazu bringt, nicht weniger als ihr Leben auf den Kopf zu stellen – und mehr und mehr auf Gewalt zu verzichten? Mich beeindruckt sehr, wie realistisch die Bibel den sich verändernden Lebensstil von Menschen herausarbeitet:

Da wird ein gesuchter Totschläger, nämlich der Flüchtling Mose, der aus Zorn den ägyptischen Peiniger seiner hebräischen Brüder erschlägt, zu einem gewaltfrei handelnden Befreier: „Let my people go!“ ist dessen gerade- zu monoton vorgetragene Botschaft an den Tyrannen, den Pharao.

Da wird der Milizen-Führer David mit einem guten Händchen für erfolgreiche Gewaltstrategien und –propaganda („Saul hat tausend erschlagen, David zehntausend!“; 1. Sam 18,7) mehr und mehr zu dem, der gegenüber seinem Konkurrenten Saul auf Gewalt verzichtet (1. Sam 24). In den Psalmen, die dem König David in den Mund gelegt sind, ist der Gewalttäter sogar zum prononcierten Beter geworden, der klagt statt zu siegen. Was für eine Metamorphose des Lebensstils mit was für einer Wirkung bis in die Spirituals der Sklaven, bis zu Harriet Tubman, deren „Underground Railroad“ Tausenden von nordamerikanischen Sklaven zur Flucht nach Kanada verhalf!

Auch der Blick ins Neue Testament zeigt, dass die Evangelien insgesamt als eine Protest-Geschichte gegen die pax romana mit ihrer zerstörerischen Gewalt gelesen werden müssen: Besonders das Lukas-Evangelium hält die von den Psalmen inspirierte Tugend der Demut als alternativen Lebensstil dagegen: Vom Christus Gottes ermächtigt, werden die Gedemütigten zu Demütigen und brauchen sich vor dem Kleinsein nicht mehr zu fürchten – denn auch Gott ist „gerneklein“ (Kurt Marti). Und das Markus-Evangelium ist eine frohe Botschaft vor dem Abgrund des jüdischen Krieges, der die Zerstörung des Allerheiligsten, des Tempels, und die Verheerung des ganzen Landes nach sich zieht. Mit ihren ‚politischen Augen‘ sehen die Leser des Evangeliums die Leichenberge des Krieges, mit ihren ‚poetischen Augen‘ lassen sie sich anhand des Markus-Evangeliums von Jerusalem zurückführen nach Galiläa und an die Hand des Messias Jesus nehmen, der heilt statt zu töten, der auf Gewalt verzichtet statt den tyrannischen Feind zu überwältigen.

Am konkretesten wird die Wandlung eines geradezu fundamentalistischen Gewalttäters aber in der Person des Paulus anschaulich: In seiner Berufung zum Apostel – so ambivalent er als Person auch bleibt – erfährt Paulus eine radikale Abkehr von der funda mentalen Gewalt, die er zuvor durchaus zur Verfolgung von religiösen Bewegungen („Urchristen“) einsetzte und für legitim hielt. Als messianischer Apostel aber sieht sich Paulus gegenüber den von ihm gegründeten oder besuchten Gemeinden dazu herausgefordert, einen ganz anderen Lebensstil zu verkörpern und zu suchen. Während die pax romana es dem gesunden Menschenverstand nahelegte, den Kriegszustand zwischen dem Judentum und den anderen Völkern im Römischen Reich für den Normalfall zu halten, sieht Paulus den Messias als den, der Frieden und Versöhnung zwischen Juden und Heiden nahebringt, ihn herausfordert, der es möglich macht, das Zusammenleben der Verschiedenen zu erproben.

Der Philosoph Giorgio Agamben spricht, inspiriert von den Briefen des Paulus, in unsere Gegenwart des 21. Jahrhundert hinein von der „Zeit, die bleibt“. Die Zeit des Messias, die zum Entstehen der Kirche aus den Völkern geführt hat, ist bis zum heutigen Tag keine Zeit, in der wir es uns gut einrichten können. Sie ist eine „qualitative Transformation der gelebten Zeit“5, in der es keinen Aufschub gibt. Ist es nicht Zeit, uns von dem neuen Lebensstil des Gewaltverzichts und der Gewaltüberwindung, der uns in der Bibel so exemplarisch und hinreißend erzählt wird, neu verführen zu lassen? Dr. Martin Bock ist Leiter der Melanchthon-Akademie.

 

1 Johannes Schnocks, Gewalt und Gewaltüberwindung, in: W. Dietrich (Hg.), Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 2017, 338-353, 352.

2 Bernd Janowski, Der Wolf und das Lamm. Zum eschatologischen Tierfrieden in Jes 11, 6-9, in: H.J. Eckstein u.a. (Hg.), Eschatologie – Eschatology, Tübingen 2011, 3-18, 18.

3 Jürgen Ebach, Nicht den Frieden, sondern das Schwert. Drängende Fragen an Texte, ohne von Gewalt zu sprechen, www.bibel-in-gerechter-sprache.de/wp-content/uploads/Ebach-OEKT2010_

Gewalt.pdf (abgerufen am 20.06.2018, 13:26 Uhr)

4 Walter Dietrich/Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Bd 1 Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 1995, 16.

5 Giorgio Agamben, Kirche und Reich, Berlin 2012, 12.

 

 

Autor Dr. Martin Bock ist Leiter der Melanchthon-Akademie.