„Gott mit uns“? – Rheinische Protestanten im Ersten Weltkrieg

100 Jahre nach dem „Ende“ des Ersten Weltkriegs werden Ursachen und Schuldfragen in den Medien lebhaft diskutiert. Die Mitwirkung des Protestantismus aufgrund seiner damals vorherrschenden „Thron- und Altar“-Ideologie ist unbestreitbar, wird aber in ihrer Bedeutung oft unterschätzt.

Seit den Siegen von 1870/71 ist die latente Kriegsbegeisterung der Protestanten stetig gewachsen und tritt, wie überall im Deutschen Reich, auch im Rheinland offen zu Tage. Die später im „Dritten Reich“ auf den Koppelschlössern der Soldaten erscheinende Parole „Gott mit uns“ tönt schon 1914 von den Kanzeln und krönt „Kriegesgebetsstunden“. Wer sich gegen den Krieg ausspricht, gilt als „vaterlandsloser Geselle“. Für die europäischen Mächte ist Deutschland seit dem Einmarsch in Belgien der Aggressor. Die deutsche Regierung dagegen stellte zuvor die russische Generalmobilmachung als „Überfall“ dar; die eigenen Kriegserklärungen hätten einer „Einkreisung“ zuvorkommen sollen. Damit begründet die „Oberste Heeresleitung“ ihre Orientierung auf einen Siegfrieden. Reichskanzler von Bethmann-Hollweg rechtfertigt die Verletzung der belgischen Neutralität im Reichstag am 4. August 1914 so: „Wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt kein Gebot. Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts. Das Unrecht – ich spreche offen –, das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist.“ Drei Tage zuvor hatte Kaiser Wilhelm II. den inneren „Burgfrieden“ verkündet: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ Dem millionenfachen Tod gingen die Kriegswilligen, allen voran die deutschen, ahnungslos, wenn auch nicht „schlafwandelnd“ entgegen. Wenn sich die Deutschen – wie es in jüngsten Diskussionen heißt – „verzockt“ hatten, so war das furchtbare „Spielfeld“ doch von allen Großmächten präpariert worden.

 

Fromme Soldaten an der Front – Der Patriot – Hans van Norden

Im September 1914 erhielt Jakob van Norden, in Köln erfolgreicher Einzelhandelskaufmann und deutschnationaler Presbyter, Feldpost von seinem Sohn Hans aus Frankreich. Er feierte einen militärischen Erfolg und genoss „abends wieder Rotwein und Sekt – liebe Seele, wat willste mehr?“ Die Franzosen hätten es „nicht anders verdient“.  Einige Wochen später schreibt er ernüchtert: „Es ist nur traurig, dass jeder Sieg, jedes Stückchen Gelände so viele brave deutsche Soldaten kostet. Überall, wo man hinkommt, sieht man jetzt Soldatengräber.“1

Im November erwähnt er seinen Hass auf die Engländer – um dann jedoch den Krieg zu verurteilen: „Mit welcher Erbitterung und rücksichtslosen Brutalität dieser Krieg geführt wird, ist entsetzlich und menschenunwürdig. […] Ihr macht Euch keinen Begriff von dem Elend, das über ein Land kommt, in dem fremde Kriegsheere Herren sind“.2 Ende Dezember ist alle Kriegsbegeisterung restlos verflogen: „Ein Wunsch, ein heißer, geht unausgesprochen durch Millionen Herzen: Friede! Wann mag er uns beschert sein?  […] Solch eine törichte Welt! Anstatt in Frieden das neue Jahr zu beginnen, liegen sich hier und allerorten die Völker einander gegenüber.“3 Jakob van Norden antwortet seinem Sohn: „Wenn wir nicht glaubten, dass auch Euer Leben und Sein in Gottes Hand stände, dann würde uns die Sorge um Euch ja aufzehren. Aber wir halten uns aufrecht in der Hoffnung, dass Gott Euch wieder zu uns führt und dass dann nach diesen Jahren der Sorge und des Herzeleids schöne Jahre gemeinsamen friedvollen Zusammenseins uns beschert sind.“ Er schickt ihm Zigarren, auch Zeitschriften, nicht aber den „Simplicissimus“, den er 1917 ein „gemeines Blatt“ nennt, das „durch sein Eintreten für den „sogenannten Scheidemann- und Erzberger-Frieden“ und „falsche Darstellung der deutschen Verhältnisse den Krieg mitverschuldet“ habe.5

Im April 1918 stirbt Hans van Norden nach einer schweren Verwundung. An des Vaters Geburtstag, dem 1. Mai, erhalten die Eltern die Todesnachricht. „Sie konnten“ – so der Enkel Günther van Norden – „diese furchtbare Nachricht nur aus ihrem Glauben ertragen, dass dieses Geschehen Gottes Wille sei und dieser Wille des allmächtigen Gottes in jedem Falle gut sei für ihren liebsten Sohn, auch wenn sie es jetzt nicht verstehen können“ (S. 101). Im Oktober nimmt Jakob van Norden von der Idee des deutschen Siegfriedens endgültig Abschied und hofft auf den Versöhnungsfrieden. „Jetzt hat Wilson das Wort“, schreibt er an seinen Sohn Heinz, „von seinem Entschluss hängt es ab, welchen Frieden wir bekommen, er ist der mächtigste Mann, auf dessen Wort in diesen Stunden viele Millionen angstvoll lauschen. Nicht nur bei uns in unserm Vaterland, sondern fast auf der ganzen Welt. Denn das ist doch wohl sicher, wie bei uns verlangt man auch in Frankreich, Italien und gewiß auch in England nach Beendigung des Mordens und der Zerstörung. […] Gott gebe den Mächtigen der Erde die rechten Gedanken und den Willen, Frieden auf Erden zu schaffen.“6 (S. 106f.)

 

Fritz Langensiepen – Gefreiter und Kriegsgegner

Anders als der Pfarrer-Vater, der seinem Sohn Fritz 1917 rät, das „Kreuz des Herrn Jesus“ auf sich zu nehmen, erteilt der 20-jährige Rekrut – und spätere Pfarrer der Bekennenden Kirche7– Fritz Langensiepen (1897-1975) dem Krieg mitten im patriotischen Taumel eine entschiedene Absage. „Der Krieg ist und bleibt doch eine Sünde, besonders in der Scheußlichkeit, wie er jetzt geführt wird. Wir werden also alle zu einer Sünde gedrängt, der wir uns alle unmöglich entziehen können.“ Blutige Auseinandersetzungen zwischen Staaten kamen ihm „so lächerlich vor wie der Streit von ein paar Gassenjungen“8. Nach knapp einjährigem Militärdienst schreibt er im November 1917 an die Eltern: „Ich habe mich in dieser Zeit noch nicht an den Geist des Militarismus gewöhnen können. Es ist ein Geist der Knechtschaft, des blöden Gehorsam, der Unselbständigkeit und der Unlust.“ Außerdem seien Volk und Vaterland „durchaus irdische Sachen“, an die er nicht glauben müsse.9

Als Soldat im Baltikum bemüht er sich, den „Schrecken der russischen Revolution“ gerecht zu beurteilen. Aufgrund der Unterdrückung der Bevölkerung durch die herrschende Schicht der „deutschblütigen Barone“ sei es „begreiflich, daß die Revolution der Geknechteten sich in schlimmen Exzessen entlud“.10  Anders als Hans van Norden überlebt Langensiepen 1918 als Gefreiter den Endkampf in Frankreich. „Von unserer Kompanie ist genau die Hälfte gefallen“, schreibt er dem Vater. „Das Gefühl kann ich Dir übrigens nicht beschreiben, wenn man kurz vorher gebetet hat ‚Gott bewahre mich!’ und man geht als einziger von ungefähr 20 Kameraden von einer blutigen Stelle unversehrt hinweg.“11 Entsprechend skeptisch reagiert der Theologiestudent 1925 auf die Begeisterung seiner Braut über die Jahrtausendfeier des Deutschen Reichs. Es sei eine „große Kundgebung für das Deutschtum“ mit entsprechenden Liedern („Deutsch ist die Saar“, „Fest steht und treu die Wacht am Rhein“), schreibt sie ihm. Den 80-jährigen Hindenburg preist er allerdings 1927, im zweiten Jahr seines Hunsrück-Pfarramtes, patriotisch predigend. Es sei „Gottes unbegreifliche Gnade“, einen solchen „Führer des Volkes“ zu haben, der „als Held“ nach der Schlacht von Tannenberg („ein Meisterstück“) das Heer geordnet zurückführte. Langensiepens Äußerungen sind „typisch für die Mentalität der großen Mehrheit des protestantischen deutschen Bürgertums“, bemerkt Günther van Norden. Es sei allerdings erstaunlich, dass der einst so nachdenkliche Soldat jetzt als Pfarrer „so hemmungslos auf seine Bauern einwirkte.“ (S. 49f.).

 

„Deutschland, Deutschland über …“ – ein Presbyterium in Düsseldorf

Zurück zum Jahr 1914: Nach Beginn des Krieges werden in allen fünf Düsseldorfer Kirchen „Kriegsgebetsstunden“ abgehalten. Das Sonntagsblatt veröffentlicht regelmäßig die Namen der Soldaten, die das „Eiserne Kreuz“ erhielten oder „den Heldentod für Kaiser und Reich“ starben. Eine spezielle Version des Sonntagsblatts für die Soldaten wird an die Front versandt, das Presbyterium zeichnet eine Kriegsanleihe von 300.000 Mark, und vom Turm der Johanneskirche werden angreifende feindliche Flugzeuge beobachtet.

Im September 1917 schließt sich das gesamte Presbyterium der „Vaterlandspartei“ und deren Kriegszielen an: Gebietserweiterungen im Osten, deutsche Schutzmachtstellung über Belgien und Annexion des französischen Erzbeckens von Longwy-Briey. Außerdem verfasst es als „Vertretung der größten evangelischen Gemeinde am deutschen Rhein, um den nicht zuletzt das Völkerringen geht“, eine feierliche Erklärung, die dem Kaiser, dem Reichskanzler und dem Generalfeldmarschall von Hindenburg übermittelt wird. Darin versichert das Presbyterium nach einem „Treuegelübde“ an den Kaiser und dem Bekenntnis aus der ersten Strophe der heutigen Nationalhymne: „Gott ist mit uns und wir mit Gott. Den Sieg woll’n wir erlangen.“ Ein Jahr später ist, anders als gedacht, das Ende da. Der Kaiser flieht nach Holland. Und wie, so fragen die Presbyter, soll man es jetzt mit dem Kirchengebet für ihn halten? Das sei eine Taktfrage, meinen die Pastoren.12  

 

„Herzensmobilmachung“ in Bergisch Gladbach

Der gebürtige Elberfelder Ludwig Rehse, seit 1892 Pfarrer in Bergisch-Gladbach, ist 1914 davon überzeugt, dass der Feind Deutschland überrollen will: „Sieg bedeute für uns nicht Eroberung, nicht Rache, nicht Ehre, nicht Waffenruhm, er bedeutet mehr als dies, er bedeute Leben. Wir wollen leben. Ein Volk, das von seinen Feinden zur Schlachtbank bestimmt worden ist, muss siegen oder kann nur noch – sterben.“13  Rehse sieht 1915 in Kriegsbegeisterung der Massen eine durch die „Offenbarung des Heiligen Geistes“ bewirkte „Herzensmobilmachung“. „So furchtbar dieser Krieg ist“, erklärt er, „so schrecklich und schmerzlich auch die Opfer sind, die er erfordert, wir stehen doch mit Dank vor Gott, daß er uns gewürdigt hat, diese große Zeit unseres Volkes zu erleben und mit unserer Arbeit zu begleiten.“ Dankbar blickt er auf den Tag des Kriegsbeginns zurück, an dem „unsere Kirchen die Menschen nicht fassen konnten“ und „wir staunend, anbetend, zitternd erlebt haben, daß unser Volk sich aufmachte und zu seinem Gott und Vater ging“.14

Der ansonsten kluge und liberale Pfarrer kommt auch nach der Niederlage von 1918, fern jeder Analyse, über Fassungslosigkeit, Wehklage und Gottergebenheit nicht hinaus. Er beklagt gescheiterte Hoffnungen, seelische Zusammenbrüche und die Abwendung Vieler vom Glauben: „Von solchen, die draußen Gott gefunden hätten, wie es in so vielen Feldpostbriefen gestanden hatte, sah und hörte man nichts mehr.“ Kommentarlos zitiert er den Vorwurf von Kirchenkritikern: „Die Kirche habe ihren Beruf vergessen und statt dem Frieden dem Krieg gedient, sie habe auch durch ihre Predigt vom Durchhalten mitgeholfen, den Krieg und damit das Blutvergießen und die allgemeine Not zu verlängern usw.“ Rehse will dem offensichtlich weder zustimmen noch widersprechen. Stattdessen wirft er den kritischen Kriegsteilnehmern vor, sie gingen nicht in die Kirche und hielten auch ihre Familien und andere noch davon ab.15

 

Der „Außenseiter“ – der religiöse Sozialist Georg Fritze

Der Sohn eines Magdeburger Kaufmanns (1874-1939) verbrachte die ihn prägenden ersten Berufsjahre in der belgischen Bergarbeiterstadt Charleroi. Von da an war er auf dem Weg, sich den Beinamen „roter Pfarrer“ zu erwerben. 1916 wird er Pfarrer in Köln. So wie er zuvor die Aufrüstung als Gefahr angeprangert hat, sind nun Friedenspredigten für ihn eine notwendige Konsequenz – auch in Köln. Bereits seine Einführung Ostern 1916 – in Verdun tobt die blutige Materialschlacht – steht im Kontrast zu seiner theologischen und politischen Überzeugung. Die Gemeinde singt: „Wir loben dich, oben, du Lenker der Schlachten, / und flehen: Mögest stehen uns fernerhin bei, / daß deine Gemeinde nicht Opfer der Feinde! / Dein Name sei gelobt! O Herr, mach uns frei!“ Der mittlerweile in protestantischen Sprachgebrauch eingegangene Begriff „Lenker der Schlachten“ war schon früh durch Theodor Körner, den Dichter der antinapoleonischen „Freiheitskriege“ und vor allem durch sein „Gebet während der Schlacht“16 populär geworden. Jetzt feuert es die fromme Opferbereitschaft besonders unter Protestanten an:

 

Vater, ich preise dich!

`s ist ja kein Kampf für die Güter der Erde:

Das Heiligste schützen wir mit dem Schwerte;

Drum, fallend und siegend, preis‘ ich dich.

Gott, dir ergeb‘ ich mich!

Wenn mich die Donner des Todes begrüßen,

Wenn meine Adern geöffnet fließen:

Dir, mein Gott, dir ergeb‘ ich mich!

Vater, ich rufe dich!

 

Das Gebet an den „Lenker der Schlachten“ kann nicht verwundern: Fritzes Amtsbrüder preisen ihn vorbehaltlos, sind von der deutschen Unschuld überzeugt. „Aus aller Augen leuchtet das Hochgefühl“, so Pfarrer Louis Waldemar Radecke  im August 1914, „daß wir für eine gerechte Sache den uns aufgezwungenen Kampf führen. In Begeisterung schlagen die Herzen dem Kaiser zu, der in schicksalsschwangeren Stunden beides: die ehrliche Friedensliebe und die furchtlose Entschlossenheit des deutschen Volkes in schlichter Größe zum Ausdruck gebracht hat.“17

Gegen den „Ansturm des Neides und Hasses“, so Radecke, werde man das, „was deutsche Kraft und deutscher Geist in jahrhundertelanger Arbeit geschaffen haben, siegreich wahren“. Zur Abstützung seiner Appelle  bemüht der liberale Pfarrer den Darwinismus: Überall herrsche „der Kampf ums Dasein“ – „als Quelle allen Fortschritts und jeglicher Entwicklung“. Dazu gehöre der Hass – „gegen die russische Ländergier, die französische Prahlerei, die japanische Niedertracht und die britische Heuchelei. Das alles hassen wir aus tiefster Seele“, so der Pfarrer. „Jesus hätte es auch getan!“18

Wohl angesichts solcher Kriegsbegeisterung predigt Georg Fritze anfänglich behutsam gegen den Strich. Reich Gottes und Reich des Vaterlandes seien nicht dasselbe.  Nur eines von ihnen könne das Höchste sein.19  In seinem Haus treffen sich 30 bis 50 Gleichgesinnte. In den „Gemeindenachrichten“ berichtet ein Gemeindeglied 1917 – offensichtlich aus eigener Anschauung – über die Diskrepanz zwischen gepredigtem und erlebtem Krieg. „Zu einer Verklärung des Todesgedankens“ sei der Krieg für den, der mitten darin stehe, nicht angetan. Der schmutzige Soldatenalltag, vor allem aber die Folgen des Artilleriefeuers – „Zerstückelung durch die Artilleriegeschosse, Verschüttung im zusammengeschossenen Graben usw.“ – nähmen ihm alles Heroische. Hinzu kämen die unbegrabenen Leichen zwischen den Stellungen, die das „rein Physische des Todes in furchtbarer Anschaulichkeit darstellen“.

1917 nimmt Fritze das Reformationsfest zum Anlass, in der Zeitschrift „Die christliche Welt“ im Namen einer freilich keineswegs vorhandenen Mehrheit zu erklären: „Wir deutschen Protestanten reichen im Bewusstsein der gemeinsamen christlichen Güter und Ziele allen Glaubensgenossen, auch denen in den feindlichen Staaten, von Herzen die Bruderhand. Wir erkennen die tiefsten Ursachen dieses Krieges in den widerchristlichen Mächten, die das Völkerleben beherrschen, in Misstrauen, Gewaltvergötterung und Begehrlichkeit, und erblicken in einem Frieden der Verständigung und der Versöhnung den erstrebenswerten Frieden. […] Wir fühlen angesichts dieses fürchterlichen Krieges die Gewissenspflicht, im Namen des Christentums fortan mit aller Entschiedenheit dahin zu streben, daß der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung unter den Völkern verschwindet.“20

Gegenerklärungen, Verurteilungen prasselten auf Fritze herab. Trotz wachsender Not und immer schwererer Niederlagen verbreiteten seine Kollegen noch im letzten Kriegsjahr Durchhalteparolen. Es gebe da Menschen, die jetzt Frieden und Verständigung wollten. „Anwandlungen solcher Stimmungen“ seien verständlich, aber sie schwächten den Willen zum Sieg. Es müsse weiter gekämpft werden. Apodiktisch, fast kindlich trotzig verkündeten die evangelischen „Gemeindenachrichten“ im August 1918: „Alle, alle müssen wissen, daß es nicht anders geht. Es muß sein.“

Im November schließlich, nach dem Waffenstillstand und nach dem Tod von 1.500 Soldaten aus der Gemeinde Alt-Köln ist auch hier der Jammer groß. Analyse oder religiöse Selbstkritik wird in den „Gemeindenachrichten“ vermieden, Ratlosigkeit lyrisch verbrämt: „Es ist dunkel um uns geworden. Die Sonne des Glücks und des Sieges, die uns jahrelang gelacht hat, ist untergegangen. Und ein Schatten nach dem andern hat sich auf uns herabgesenkt.“ Wie ein verlassenes Kind fragt der Schreiber des Beitrags: „Was wird aus Kaiser und Reich, was wird aus der Freiheit und Wohlfahrt des ganzen Volkes, was wird aus uns?“21  Georg Fritze wird nun nur noch von wenigen als „vaterlandsloser Geselle“ beschimpft. In der Domstadt amtiert inzwischen ein Arbeiter- und Soldatenrat, deutsche Fronttruppen ziehen sich vom Westen über die Rheinbrücken ins Landesinnere zurück, der Einmarsch der Alliierten steht bevor, in Berlin hat Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen.

 

Die protestantische „Unschuld“

Auf der im März 1919 in Barmen tagenden Rheinischen Provinzialsynode führt Generalsuperintendent Karl Viktor Klingemann die Anwesenden „im Geiste an die Gräber zahlloser Heldensöhne und Opfer des Krieges und an das letzte und tiefste, das weite Grab der Herrlichkeit unseres Reiches“. Er spricht von nie da gewesenen „Tiefen des Leids und der Schmach“. Rückwärts gewandt erklärt er: „An unser liebes Preußen sind wir doppelt gebunden als Glieder unseres Volkes und unserer preußischen Landeskirche.“ Bar jeder kritischen Reflexion über frühere Waffensegnungen plädiert der Generalsuperintendent für eine – theologisch verklärte – schuldlose Leidensbereitschaft: „Es ist Gnade und unser Vorrecht, daß wir fähig werden, mit unserem Volk und für unser Volk zu leiden.“22

Im Frühsommer ist die Empörung über den drohenden Versailler Vertrag groß. Die Mehrheit des Düsseldorfer Presbyteriums, die samt einigen Pfarrern der im November 1918 gegründeten „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP) beigetreten ist, schwört 2.000 im Gemeindehaus versammelte Männer und Frauen gegen den „Gewaltfrieden“ ein. In einer entsprechenden Resolution wird den Siegern gedroht: „Ihr habt die Gewalt der Gegenwart, doch unser bleibt das Recht der Zukunft. Nehmt ihr uns den Rhein […], so werdet ihr daran sterben.“23 Im Juni wird der „Schandvertrag“ unterzeichnet, in der von deutscher Seite anerkannt wird, „daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und ihrer Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“.

Das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz weicht der Schuldfrage aus. Die „unversieglichen Kraftquellen des Evangeliums“ sollten helfen, „in Buße und Glauben, in Demut und Vertrauen das Leben zu erneuern, damit Gerechtigkeit, Zucht und Liebe gestärkt werden und sich mächtiger erweisen als die schlimmen Geister der Habgier, des Neides und des Hasses.“

Sind’s böse Nachbarn? Die gottlosen Sozialdemokraten? Die Siegermächte? Dass Buße auch im Blick auf deutsche Schuld angebracht sein könnte – daran ist wohl am allerwenigsten gedacht.24

Anders als das eher zurückhaltende rheinische Konsistorium äußern sich die Generalsuperintendenten aller preußischen Kirchenprovinzen: „Das Verlangen, uns als einzig Schuldigen am Kriege zu bekennen, legt uns eine Lüge in den Mund, die schamlos unser Gewissen verletzt.“ Der kaiserlichen Regierung – „wie man auch urteilen mag über einzelne Handlungen“ – wird Reinheit des Wollens, christlicher Ernst und tief begründetes Verantwortungsgefühl bescheinigt.

 

Vorwärts in die Katastrophe

Die evangelische Kirche ist „kopflos“: Der Kaiser von Gottes Gnaden hat das Land verlassen und Friedrich Ebert ist Reichskanzler geworden – ein Vertreter der „gottlosen Sozialdemokratie“. Die Weimarer Republik bleibt für die meisten Protestanten ein Fremdkörper.15 Der schon im Kaiserreich sichtbar gewordene Konflikt zwischen Nationalismus und demokratischen Vorstellungen verschärft sich und wendet sich nun erstmals gegen den Staat und seine Verfassung.

Die parlamentarisch-demokratische Republik wird auch von der großen Mehrheit der Protestanten nicht als angemessene Fortführung der deutschen Nationalgeschichte betrachtet – eine Entwicklung mit weit reichenden Folgen. In ihrer patriotischen Ratlosigkeit rettet sich die Kirche angesichts des von ihr verdammten Versailler „Schandvertrags“ in Vergeltungsgedanken. Viele Protestanten treten zuerst in die „Deutschnationale Volkspartei“ ein, nach 1930 dann in die NSDAP, deren von antisemitischen Parolen begleiteten Aufstieg die protestantische Mehrheit bejubelt.

 

1 Zitate aus: Günther van Norden, Friedrich Langensiepen. Ein Leben in Deutschland zwischen Pfarrhaus und Gefängnis 1897 bis 1975. Stuttgart, Kreuz, 2006, Hans an die Eltern am 30.10.1914. Briefe aus dem 1. Weltkrieg.

2 Hans an die Eltern am 2.11.1914. Ebd.

3 Hans an die Eltern am 17.12.1914. Ebd.

4 Ebd.

5 Jakob van Norden an Hans am 13.9.1917. Ebd.

6 Jakob van Norden an Heinz o.D. (nach dem 4.10.1918). Ebd.

7 S.u. S. 28ff.

8 Fritz Langensiepen, Brief an seinen Vater, S. 17.

9 Brief an die Eltern vom 13.11.1917, zit. ebd., S. 18f.

10 Fritz Langensiepen, Lebenserinnerungen, Bd.1, [Manuskript], S. 96, zit. ebd., S.20.

11 Fritz Langesiepen, Brief an den Vater vom 17.6.1918, zit. ebd., S. 21.

12 Vgl. dazu Ackermann, Helmut, Geschichte der evangelischen Gemeinde Düsseldorf von ihren Anfängen bis 1948. Düsseldorf 1996, S. 384-387.

13 Zit. in: Barbara Becker-Jákli, Die Protestanten in Köln. „Fürchtet Gott, ehret den König“. Evangelisches Leben im linksrheinischen Köln 1850-1918, SVRKG 19/1988, S. 136.

14 Erklärung von Ludwig Rehse auf der Kölner Kreissynode; Protokolle der Kreissynode Köln 1915, S. 7f, zit. in: Becker-Jákli, Köln, S. 132f.

15 Ludwig Rehse, Kriegschronik der Evangelischen Gemeinde Bergisch-Gladbach 1914-1919, masch.schr., Gemeindeamt Bergisch-Gladbach, S. 43f.; zit. in: Hermann Deeters, Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Bergisch-Gladbach 1918-1945, SVRKG 132/1998, S. 1.

16 Theodor Körner, Gebet vor der Schlacht (1813), in: Die deutschen Romantiker; 2. Band: Romantische Lyrik, Augsburg 1984, S. 109f.

17 Evangelische Gemeindenachrichten aus Köln , 7.8.1914. S. 381; zit. in: Becker-Jákli, Köln, S. 134.

18 Ebd.

19 Aus Georg Fritzes Predigt vom 29.4.1917; zit. in: Hans Prolingheuer, „Der rote Pfarrer von Köln“. Georg Fritze [1874-1939), Christ, Sozialist, Antifaschist, Wuppertal 1981, S. 33.

20 Georg Fritze in: Die christliche Welt, Nr. 42, 1917, S. 556; zit. ebd., S. 34f.

21 Evangelische Gemeindenachrichten aus Köln, 15.11.1918; zit. in: Becker-Jákli, Köln, S. 142f.

22 Bericht von der Eröffnung der 34. Rheinischen Provinzialsynode (4.-6.3.1919) durch den stellvertretenden Präses D. Bungeroth und Generalsuperintendent D. Klingemann; zit. in: van Norden, Das 20. Jahrhundert. (= Quellen zur rheinischen Kirchengeschichte, Band V), S. 71f.

23 Vgl. dazu Ackermann, Düsseldorf, S. 394f.

24 Aufruf des Evangelischen Konsistoriums zur Annahme des Friedensvertrages. Kirchliches Amtsblatt 1919, Nr. 9, 27.6.1919; zit. in: van Norden, Quellen, S. 80.

25 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Klaus Schmidt, Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 Jahre Protestanten im Rheinland, Köln 2007, S. 161-176. Zur Weimarer Republik vgl. besonders Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981; Richard Zieger (Hg.), Die Kirchen und die Weimarer Republik. Mit Beiträgen von Karl Dienst, Manfred Jacobs, Joachim Mehlhausen, Christoph Schwöbel, Klaus Tanner und Günter Wollstein, Neukirchen-Vluyn, 1994.

 

Autor Klaus Schmidt ist Pfarrer i.R.